Inklusives Schulsystem – Auflösung Förderschule Lernhilfe

Inklusion Praxis Politik

Konzentrieren wir uns auf den Förderschwerpunkt Lernen:

Hier geht Inklusion nur sehr schleppend voran, weil die Ressourcen im Sondersystem gebunden sind. Viele Eltern müssen ihre Kinder gezwungenermaßen in die Förderschule geben. Und selbst dort, wo Eltern sich nicht offen dagegen wehren, tun sie das keineswegs freiwillig! Die Schule mit dem Förderschwerpunkt Lernen beherbergt außerdem die größte Gruppe der Förderschüler.

Die ersten Hilfsschulen wurden Ende des 19. Jh. unter dem Vorwand gegründet, dass lernschwache Schüler an den Volksschulen nicht ausreichend gefördert werden könnten. Man vermutete zudem, dass die ‚normalen’ und leistungsstarken Schüler durch die ihre Anwesenheit behindert würden. Man rechtfertigte die Einführung der Hilfsschule damit, dass sie die „hilfsschulbedürftigen Kinder“ vor einer schweren seelischen Not bewahre. So hatte die Lernhilfeschule ihre Legitimation gefunden, die sie bis heute beibehält.

Obwohl seit den 70er Jahren die Forderungen nach einer integrativen Unterrichtung aller Schüler an Regelschulen immer stärker wurden, werden in Hessen weiterhin nur ca. 20 Prozent aller Förderschüler an Regelschulen unterrichtet. Schon in den 90er Jahren wurde wissenschaftlich nachgewiesen, dass diese Form der Sonderschule keinerlei Vorteile für den einzelnen Schüler bringt.

Wie zahlreiche Untersuchungen belegen, hat sich die Lernhilfeschule zu einer Schule für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche entwickelt. So ergaben Untersuchungen, dass sich das Intelligenzspektrum innerhalb einer Klasse in der Lernhilfeschule nicht von dem der Grundschule unterscheidet. Deshalb stellt sich immer mehr die Frage, ob die Förderschule für Lernhilfe doch in der Hauptsache ein Auffangbecken für diejenigen ist, die aufgrund anderer Ursachen an der Regelschule scheitern und damit Verlierer unseres derzeitigen Systems sind.

Seit der Ratifizierung der UN-BRK fehlt dieser Form der Sonderschule die rechtliche Legitimation.

Ich rufe in Erinnerung:

Im April 2015 schrieb der UN-Fachausschuss zur Staatenprüfung, er sei besorgt darüber, dass der Großteil der Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen bei uns segregierte Förderschulen besucht.

Der Ausschuss empfiehlt dem Vertragsstaat, umgehend eine Strategie für ein qualitativ hochwertiges, inklusives Bildungssystem zu entwickeln, und das segregierte Schulwesen zurückzubauen.

Es gibt also keine Wahl, es gilt zu handeln!

Einen wirklichen Wandel erleben wir bisher nicht. Man änderte zunächst den Namen von Sonderschule in Förderschule. Förderschule für Lernhilfe klingt aber auch nicht so gut. Also gab man ihr die Bezeichnung „Schule mit dem Förderschwerpunkt Lernen“. Damit hatte man zumindest den Begriff der allgemeinen Schule angenähert.

Inhaltlich
hat sich bisher nicht viel geändert. Den Eltern wird neuerdings ein Wahlrecht zugestanden: Sie dürfen immerhin äußern, ob sie Inklusion oder Förderschule für ihr Kind möchten. Entschieden wird dann in den Stellungnahmen und Förderausschüssen aber meist gegen Inklusion. Und wenn das nicht reicht, dann durch Zuweisung zur Förderschule durch das Schulamt.

Die Gründe, die Schulen verwenden, wenn sie Inklusion ablehnen, wiederholen sich:

Das Kind brauche die kleine Klasse, den geschützten Rahmen, die individuellere Förderung. Der Rückstand sei zu hoch, es wird sich schlecht fühlen in der Inklusion, oder noch schlimmer: Eine erfolgreiche inklusive Beschulung sei nicht gewährleistet. Das Kind selbst sei „nicht geeignet für Inklusion“.

Das sind Stereotype, die nichts mit dem einzelnen Kind zu tun haben.

So wie bei Christian:

Er hatte in der Grundschule Schwierigkeiten, beim Lernstoff auf Klassenniveau mitzukommen. Doch er hatte Glück. In einer der begabungsgerechten Grundschulen des Kreises Offenbach bekam er die Unterstützung, die er brauchte. Jedes Kind dort lernt auf seinem Niveau. Er bekam differenziertes Material und leichtere Klassenarbeiten. Wenn er diese gut gemacht hatte, malte ihm die Lehrerin Sternchen darunter und schrieb ein kurzes Lob dazu. So machte er regelmäßig Fortschritte, er hatte Freunde in der Klasse und fühlte sich wohl.

Dann kam der Übergang zur weiterführenden Schule. Mutter und Sohn wünschten die Haupt- und Realschule um die Ecke. Die Schule weigerte sich jedoch, den Jungen zu nehmen, denn bei ihm sei angeblich der Lernrückstand zu hoch. Er brauchte natürlich auch die kleinere Klasse und die viel individuellere Betreuung in der Förderschule.

Die Mutter legte Widerspruch ein und versuchte darzulegen, dass die inklusive Beschulung bisher erfolgreich verlief und ihr Sohn deshalb doch regelmäßig Fortschritte mache. Da die Mutter keine Kraft zum kämpfen hatte, schickte sie den Jungen in die 28 km entfernte Förderschule. Christian hat nun jeden Tag einen zwei Stunden Schulweg, während seine Klassenkameraden und Freunde die Schule am Ort besuchen.

Nach fünf Wochen erklärte die Förderschullehrerin der Mutter, dass ihr Sohn nicht in die Förderschule passe. Er zeige gute Leistungen und hohe Leistungsbereitschaft und er müsse oft bis zu 20 Minuten warten, während die Lehrerin mit den Mitschülern den Lernstoff erarbeitet.

Man hätte ihn eigentlich von Anfang an nicht aussortieren dürfen. Doch da es eine Wahl gibt, haben Schule und Schulamt das segregierte Schulsystem gewählt, offensichtlich, weil sie kein Risiko [für sich selbst?] eingehen wollten. Die Rückschulung ohne Förderbedarf in die allgemeine Schule ist nun ein Schritt, den auch die Förderschule nur zögerlich geht. Denn inklusive Beschulung ist in der allgemeinen Schule ja nicht gewollt. Eine schnelle und unkomplizierte Unterstützung, falls Christian sie doch braucht, fehlt. Denn die personelle Ressource ist im Förderschulsystem gebunden.

Wir erleben ständig, dass Schüler, die in irgendeiner Form Schwierigkeiten machen, sich also ans System nicht anpassen, an den allgemeinen Schulen nicht willkommen sind. Der Umgang mit Heterogenität ist nach wie vor ein Fremdwort in unserem System Schule. Auch die sogenannten Lernhilfekinder sind in der allgemeinen Schule nicht willkommen, weil sie im bestehenden System Arbeit machen und die allgemeine Schule nicht darauf eingerichtet ist.

In den Unternehmen der freien Wirtschaft dürfte sich das heutzutage niemand mehr erlauben. Dort ist völlig selbstverständlich, die Begriffe wie Heterogenität oder Diversity und auch Inklusion nicht nur zu kennen, sondern sich auch entsprechend „political correct“ zu verhalten.

Im Schulsystem ist es aber völlig normal, dass man im Jahre 6 nach Ratifizierung der UN-BRK darüber nachdenkt, ob ein Schüler, der nicht so schnell lernt wie andere oder mehr Unterstützung braucht, aus dem allgemeinen System aussortiert wird.

Das muss sich ändern!

Und dafür brauchen die Lehrer selbst die eigentliche Unterstützung!

Nämlich in Form von Aus- und Fortbildung, damit sie ihre Unterrichtsformen ändern können. Und in Form von Ressourcen, damit sie gemeinsam im Team mit den Experten für sonderpädagogische Förderung Strategien und Konzepte entwickeln können, die dafür sorgen, dass kein Kind zurückgelassen wird. Diese Experten arbeiten aber zur Zeit in den Förderschulen für Lernhilfe.

An einer Haupt- und Realschule sind ca. 20 Förderausschüsse für das kommende Schuljahr geplant. [Die Eltern wünschen eben doch Inklusion.] Der Mitarbeiter des zuständigen BFZ erklärte uns jetzt schon, eine Chance auf Inklusion sähe er generell nicht. Denn die Ressource für die Inklusion reiche doch nicht aus. Da will man also nun die Schüler allesamt zwangsweise der Lernhilfeschule zuweisen, nur weil die Ressource dort gebunden ist? Auf meinen Vorschlag, man könne doch stattdessen einen Förderlehrer für diese Haupt- und Realschule abstellen, antwortete er mit der Gegenfrage: „Wie denn das, wollen Sie die Lernhilfeschule auflösen?“ Ja, genau, wollen wir! Denn ist es nicht paradox, wenn die Schüler alle gegen ihren Willen in die Förderschule gehen müssen, nur weil die Förderlehrer eben dort sind?

Statt darüber nachzudenken, wie man das bestehende System so verändern kann, dass es Lernenden und Lehrenden besser gerecht wird, hält man zäh an der Schonraumthese fest, der Entlastung der Schüler von Lern- und Leistungsdruck und ihrer daraus resultierenden angeblichen „seelischen Not“ sowie den angeblich besseren Fördermöglichkeiten an der Lernhilfeschule. Der „Schonraum Lernhilfeschule“ bietet aber nicht automatisch ein besseres Lernumfeld. Der Besuch der Förderschule und die damit verbundene Zuschreibung ‚lernbehindert’ stellt an sich schon eine gravierende emotionale Belastung für die Schüler dar. Selbst für unsere jüngeren Kinder ist es ein Makel, aussortiert zu sein, mit dem Wissen und Gefühl, es nicht geschafft zu haben im allgemeinen System.

Nicht nur, dass diese Schüler von der Gesellschaft stigmatisiert werden, sie erfahren auch Einschränkungen in ihrer späteren Berufswahl und Berufsausbildung. Nur wenige Lernhilfeschüler verlassen die Förderschule mit einem Hauptschulabschluss. Die restlichen Schüler gehen zum Großteil ohne qualifizierten Abschluss in rein schulische oder duale Berufsvorbereitungsmaßnahmen über. Die Aussicht auf einen Ausbildungsplatz bzw. eine Erwerbstätigkeit nach solchen Maßnahmen ist gering.

In den vergangen Jahren wurden immer wieder wissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt, um die Effektivität der Lernhilfeschule sowie ihre vermeintliche Schonraumwirkung zu untersuchen. Die daraus resultierenden wissenschaftlichen Diskussionen über Vor- und Nachteile einer separierten Unterrichtung schlossen den wichtigsten Faktor oft aus: Nämlich den Schüler selbst.

Dabei wurde schon das hessische Schulgesetz – und zwar in den 90er Jahren! – für das Kind und mit Blick auf seine Rechte geschrieben. Die Schulbehörde ist als Sachwalter seiner Rechte verpflichtet, jedes Kind individuell nach seinen Möglichkeiten zu fördern und drohendes Leistungsversagen zu vermeiden. Versagen droht jedoch jedem Kind in unserem System ständig, weil es damit rechnen muss, im Fall des Nicht-Mitkommens durch Klassenwiederholung, Abschulung in einen anderen Bildungsgang oder Zuweisung zur Förderschule aussortiert zu werden.

Diese Möglichkeiten bieten zudem den allgemeinen Schulen den passenden Vorwand, die Verantwortung abzugeben, anstatt zu überlegen, wie man dem Auftrag des Schulgesetzes wirklich nachkommen kann. Bei dem Versuch der Lehrer, den Gesamtbetrieb geordnet aufrecht zu erhalten, sind sie jedoch oft überfordert. Gerade deshalb ist es doch an der Zeit, die Unterrichtsorganisation und die Konzepte grundlegend zu verändern. Auch Gymnasialschüler wären durchaus dankbar dafür.

Die Schulbehörde schreibt in vielen Zuweisungs-Bescheiden: „Eine erfolgreiche inklusive Beschulung ist nicht gewährleistet“.

Was ist denn überhaupt eine erfolgreiche Beschulung?

Für uns heißt das,

  • dass unsere Kinder gern in die Schule gehen und sich als Teil der Schulgemeinde fühlen;
  • dass sie in ihren Fähigkeiten Wertschätzung erfahren, sich positiv entwickeln und regelmäßig eigene Lernfortschritte machen;
  • dass sie durch die Ideen, Anregungen und Leistungen anderer unterstützt, angespornt und motiviert werden;
  • dass sie Zugang zu bestmöglicher Bildung haben und ihr eigenes Potenzial so entfalten können, dass sie den für sie besten Schulabschluss erreichen.

Und damit meinen wir alle Schüler, nicht nur die mit Förderbedarf. Und das ist das eigentlich Ziel der Inklusion. Viele inklusiv arbeitende Schulen machen es nämlich schon vor: Sie lassen keinen Schüler zurück, sie kümmern sich um alle. Den Weg dahin haben sie sich oft schwer erkämpft: Es braucht Umdenken, es braucht ein Konzept und es braucht Ressourcen.

Die Förderlehrerin einer inklusionserfahrenen IGS berichtete mir von einer Schülerin, die sie seit der 5. Klasse hatte. Im Prinzip hatte man das Ziel schon aufgegeben, dass sie irgendwann fließend und sinnerfassend einen Text lesen kann. Man hatte sich darauf konzentriert, sie mehr mündlich einzubeziehen und ihre sonstigen Fähigkeiten anzuerkennen und zu wertschätzen. Doch die Schülerin ließ nicht locker, sie übte, sie ließ sich von den Freundinnen ihrer Klasse helfen. Und mit einem Mal, in der 8. Klasse funktionierte es: Sie las den Text, der im Unterricht bearbeitet wurde, fast ohne zu stocken. Der Lehrerin kamen fast die Tränen, die ganze Klasse freute sich mit ihr. Es geht also!

Aber nicht generell in der allgemeinen Schule?

Dann wird es höchste Zeit, diese Schule umzustellen. Und zwar zum Wohle aller! Die Förderlehrerin einer anderen IGS berichtete mir nämlich, es sei eigentlich ganz einfach. Man müsse mit den Schülern ins Gespräch kommen, sie respektieren und nach ihren Bedürfnissen, Zielen und Wünschen fragen. Der zweite Schritt, nämlich die Suche nach dem erfolgreichen Weg, ergibt sich dann von selbst durch die gemeinsame Arbeit miteinander und im respektvollen Umgang der Schüler untereinander. Auch dort ist die Basis des Erfolgs das inklusive Konzept, das die Lehrerteams aus Förderlehrern und Fachlehrern erarbeitet haben.

Lernhilfeschüler selbst haben im Augenblick in beiden Systemen, sowohl in der allgemeinen Schule als auch Förderschule ein Problem bzgl. Wertschätzung und Akzeptanz. Dabei werden diese Schüler in inklusiv arbeitenden Schulen von anderen Lehrern, die hospitieren, in der Regel gar nicht erkannt. Es sind besonders brave und bemühte, zum Teil sogar ehrgeizige Schüler. Sie arbeiten fleißiger als andere, um entsprechende Erfolge zu haben. Mir berichten immer wieder Lehrer aus inklusiven Schulen, dass es keinerlei Probleme mit der sozialen Teilhabe und der allgemeinen Akzeptanz dieser Schüler gibt. Sie fügen sich problemlos ein und machen oft erstaunliche Fortschritte. Sie sind Kinder oder Jugendliche wie alle anderen, mit den gleichen Bedürfnissen. Für die Schüler einer Klasse ist das Miteinander der verschiedenen Leistungen und Fähigkeiten selbstverständlich. Wer es nicht glaubt, der gehe doch selbst mal in diesen Schulen hospitieren. Kontakte vermitteln wir gern.

Fazit:

  • Die Lernhilfeschulen sind nachgewiesenermaßen nicht das immer wieder beschworene Erfolgskonzept. Sie dienen in erster Linie der Entlastung eines Systems, das nach wie vor auf Homogenität ausgerichtet ist.
  • Es gibt einen klaren gesetzlichen und völkerrechtlich verbindlichen Auftrag zum Aufbau eines inklusiven Schulsystems auf allen Ebenen und zur Akzeptanz von Heterogenität und Vielfalt.
  • 6 Jahre sind bereits vergangen. Die augenblicklichen Versuche, Lernhilfe als Doppelsystem , nämlich als Förderschule und ein bisschen Inklusion, aufrecht zu erhalten, schlagen fehl.
  • Das muss sich ändern. Lernhilfe braucht keine eigenen Förderschulen, denn diese binden Ressourcen, die im allgemeinen System überall fehlen.
  • Die Lehrer der allgemeinen Schulen dagegen brauchen diese Unterstützung.
  • Dort, wo die Förderlehrer im Team mit den Fachlehrern arbeiten, lernen Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen erfolgreich in der Inklusion.
  • Wir müssen also das System umbauen.

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