Kein Neubau von Förderschulen!

Inklusion Praxis

An den Magistrat der Stadt Frankfurt
An die Vertreter der Stadtverordnetenversammlung der Stadt Frankfurt

Offener Brief zur Diskussion um den Neubau einer Förderschule für „geistige Entwicklung“

Sehr geehrte Damen und Herren Stadtverordnete,

als Landesverband und Interessenselbstvertretung der Eltern von Kindern mit Behinderungen treten wir für das Recht unserer Kinder auf selbstbestimmte Teilhabe gemäß UN-BRK ein. Etwas sprachlos verfolgen wir gerade die aufkeimende Diskussion über den Neubau einer Förderschule für „geistige Entwicklung“ in der Stadt Frankfurt. Wir verstehen nicht, dass knapp 10 Jahre nach Ratifizierung der UN-BRK diese Diskussion wieder aufkommt.

Geld spielt offensichtlich nur bei Inklusion eine Rolle.

Alle jammern über die angeblich hohen Kosten der Inklusion. Die Stadt Frankfurt hat finanzielle und politische Anstrengungen unternommen, um Inklusion umzusetzen und zu gestalten. Ein Blick in die Haushaltsbücher der Bundesländer, Kommunen und Kreise zeigt, dass Inklusion aber am Ende doch die kostengünstigere Variante ist. Deshalb werden andernorts Förderschulen eben nicht nur aufgrund des gesellschaftspolittischen Wandels, sondern auch aus haushaltsorganisatorischen Erwägungen geschlossen.

Doch die Stadt Frankfurt will sich beides leisten? Fast 10 Jahre nach Ratifizierung der UN-BRK soll auf dem halben Weg zur Inklusion eine politische Kehrtwende vollzogen werden und eine weitere Förderschule gebaut werden? Kostenpunkt: geschätzt mindestens 25 Millionen Euro. Man könnte das Geld auch verwenden, um die allgemeinen Schulen in der Modellregion Inklusion besser auszustatten.

Der progressive Umsetzungvorbehalt der UN-BRK verpflichtet die Vertragsstaaten zum schrittweisen Abbau des stationären Systems der Förderschule und zur Umwandlung in ein inklusives Schulsystem.

Im April 2015 empfahl der UN-Fachausschuss in Genf anläßlich zur Staatenprüfung u.a. (a) umgehend eine Strategie, einen Aktionsplan, einen Zeitplan und Ziele zu entwickeln, um in allen Bundesländern den Zugang zu einem qualitativ hochwertigen, inklusiven Bildungssystem zu ermöglichen; (b) das Förderschulsystem abzubauen.

Es gibt einen Unterschied zwischen Förderbedarf und Förderschule.

Der Förderbedarf „geistige Entwicklung“ hat seine Berechtigung im Schulsystem. Seine Feststellung bedarf aber einer verantwortungsvollen Diagnostik, welche die Fähigkeiten und das Entwicklungspotenzial des Kindes im Blick hat.
Es waren gerade die Eltern, die sich in den 60er Jahren dafür eingesetzt haben, dass ihre Kinder mit geistiger Behinderung ein Recht auf Bildung erhielten. Galten sie doch bis dahin als „bildungsunfähig“ und waren von der Schulpflicht befreit. Nach Gründung der Elternvereinigung „Lebenshilfe“ entstanden in Hessen seit 1961 die ersten „Sonderklassen für geistig Behinderte“, aus der sich später die „Schule für Praktisch Bildbare“, heute „Geistige Entwicklung“ bildete. Eltern haben sich damals für die Förderschule eingesetzt.

Heute setzen sich Eltern für Inklusion ein.

Eltern wenden sich von der Förderschule ab und der Inklusion zu. Nach Berichten aus Staatlichen Schulämtern in Hessen haben für das kommende Schuljahr deutlich mehr Eltern die Inklusion für ihre Kinder gefordert. Das belegen die Zahlen der Schulanmeldungen und Förderausschüsse (auch in Frankfurt!). In Zeiten des gesellschaftlichen Wandels reagiert die Schulbehörde auf die gesellschaftlichen Veränderungen: Schulamtsbezirke wie z.B. Stadt und Kreis Offenbach versuchen das Spannungsfeld zwischen guter Versorgung durch Sonderpädagogik, oft notwendiger kleiner Gruppe bei gleichzeitiger Möglichkeit zur Teilhabe durch den Ausbau der Kooperationsklassen an allgemeinen Schulen zu lösen. Die Offenbacher Eltern machen seit Jahren gute Erfahrungen an Grund- und weiterführenden Schulen damit und haben diese Option zum neuen Schuljahr bewusst gewählt.

Denn unsere Kinder lernen nicht das Gleiche in der Förderschule wie in der Inklusion.

Und das liegt an der sozialen Struktur, am Lernumfeld. In der Inklusion/Kooperationsklasse vermitteln die Förderschullehrkräfte in Zusammenarbeit mit den allgemeinen Lehrkräften ihren Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf geistige Entwicklung den Unterrichtsstoff der allgemeinen Schule, jedoch auf dem Niveau des handlungsorientierten Ansatzes der Förderschule.

In der Förderschule geht das nicht. Hier gibt es den Lehrplan der allgemeinen Schule nicht. Es gilt der eigene Lehrplan mit dem Ziel des Erwerbs von „lebenspraktischen Kompetenzen“. Hier gibt es die Angebote für die „normalen“ Kinder nicht, von denen Kinder mit Behinderungen aber nachweislich profitieren. Hier gibt es diese „normalen“ Kinder nicht. Kinder mit Behinderungen verlieren damit den Anschluss an ihr soziales Umfeld, das sie von zuhause aber gewöhnt sind. In der Förderschule lebt und lernt nicht der Querschnitt der Gesellschaft, die sog. Mitte, an der auch Kinder mit Behinderungen als Erwachsene später teilhaben möchten.

Die Förderschule für geistige Entwicklung dient auch nicht der Vorbereitung für ein zunehmend selbständiges Leben unserer Kinder mit Behinderungen, wie es UN-BRK und das Bundesteilhabegesetz vorsehen. Die Förderschule bereitet stattdessen auf den Besuch der Werkstatt vor. Sie ist ein Sondersystem, das in das nächste Sondersystem überleitet. Die Förderschule für geistige Entwicklung erfüllt also in keinster Weise die Anforderungen der UN-BRK für die Umsetzung des Rechts auf selbstbestimmte Teilhabe. Sie ist als Sonderinstitution diskriminierend, denn ihr einziges Aufnahme-Kriterium ist das Vorliegen einer Behinderung.

Mehr Förderschüler machen mehr Förderschulen.
Oder machen mehr Förderschulen mehr Förderschüler?

Die Bertelsmann-Studie machte 2017 darauf aufmerksam, dass die Anzahl der Schüler mit Förderbedarf in den Jahren 2002 bis 2014 kontinuierlich gestiegen sei. Gleichzeitig stieg damit die Zahl der Schüler, die eine Förderschule in Hessen besuchen, kontinuierlich an: Es gibt also nicht mehr Inklusion, es gibt nur mehr Förderschüler.

Wir Eltern sehen diese Entwicklung bereits im Ansatz, bei der hohen Rate des Förderbedarfs kritisch. Wir vermuten einen Zusammenhang zwischen der zügigen und reichlichen Feststellung des Förderbedarfs „geistige Entwicklung“ und den Forderungen sowohl nach Bestandsgarantie der Förderschule als auch nach mehr sonderpädagogischem Personal in der Inklusion.

Viele Eltern nehmen den von den Lehrkräften vorgeschlagenen Förderbedarf GE bei gleichzeitigem Inklusionsabgebot letztendlich hin, weil sie wollen, dass ihr Kind in der allgemeinen Schule/Inklusion mit Förderlehrerstunden gut versorgt wird. Dabei ist die Feststellung des Förderschwerpunktes „geistige Entwicklung“ in Bezug auf die Lerninhalte und Lernziele unserer Kinder oft nicht gerechtfertigt. Prominentes Beispiel ist Nenad aus NRW. Er musste Jahre in der Förderschule verbringen, obwohl er keine geistige Behinderung hat. Nenad hat das Land jetzt deshalb erfolgreich auf Schadensersatz verklagt. Den „Fall Nenad“ gibt es auch in der Stadt Frankfurt!

Bevor über den Neubau einer Förderschule für geistige Entwicklung nachgedacht wird, sollte doch erst überlegt werden, ob der Bedarf tatsächlich besteht.

Eine angeblich überfüllte Förderschule ist kein Argument für den Neubau einer weiteren. Denn wir Eltern müssen regelmäßig erleben, dass die Förderschulen für geistige Entwicklung immer mit offenen Armen alle Kinder aufnehmen, die im allgemeinen System nicht gewollt sind oder in anderen Förderschulen Schwierigkeiten machen. Mit dem eigentlichen Förderbedarf des Kindes hat das dann wenig zu tun.

Kinder, die einmal in die Förderschule für geistige Entwicklung aufgenommen wurden, hängen dort fest. Sind sie erst einmal dort, werden sie nicht weiter auf ihre Entwicklung und ihr Leistungspotenzial überrprüft, obwohl das auch in Hessen vorgeschrieben ist. Indem sie bleiben, füllen sie die Schule. Und das trotz mancher kognitiver und sozialer Entwicklung so mancher Kinder, die eben nicht geistig behindert sind, sondern zu Beginn ihrer Schulzeit einfach nur mehr Zeit gebraucht hätten.

Auch Anträge auf Wechsel in die Inklusion werden eher schleppend bearbeitet, Eltern versucht man stattdessen zu überzeugen, dass die Förderschule für geistige Entwicklung doch immer die richtige Entscheidung sei...

Im Berichtsantrag des Magistrats an die Stadtverordnetenversammlung im Jahr 2016 nennt die zuständige Dezernentin, Frau Weber, Zahlen zum Wechsel aus der Förderschule: Im Schuljahr 2014/15 wurden gerade mal 1,28% der Schülerinnen und Schüler von der Förderschule in die allgemeine Schule zurückgeführt, im Schuljahr 2015/16 waren es noch weniger, nämlich nur 1,0 %. Die beiden Förderschulen für geistige Entwicklung sind außerdem zunehmend Sammelbecken von Kindern aus sozial schwachen Familien, oft mit Migrationshintergrund. Darunter sind viele Familien, die eben nicht die Kraft haben, sich selbst ständig mühevoll für die Förderung ihrer Kinder oder gar für Inklusion einzusetzen. Die Aufnahme solcher Familien trägt zur Sicherung des Bestands der Förderschule bei, doch sie führt auch zu weiterer Diskriminierung und gesellschaftlicher Trennung.

In welcher Gesellschaft wollen wir leben?

Auch wenn diese Frage nicht neu ist, so sollte man sie sich immer wieder stellen. Inklusion heißt, niemanden auszuschließen, jeden willkommen zu heißen, so wie er ist, mit seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Wann und wie sollen unsere Kinder - und zwar sowohl diejenigen mit als auch die ohne Behinderungen! - eine diskriminierungsfreie Gesellschaft erleben, wenn die politisch Verantwortlichen weiter auf ein separierendes und diskriminierendes System setzen? Im Berufsleben, gerade im höheren Management, wird dann plötzlich der Umgang mit Heterogenität und Diversität von jedem selbstverständlich erwartet. Wie sollen unsere Kinder das lernen, wenn sie in einem seprarativen Schulsystem groß werden? Wir sollten die Möglichkeiten ausschöpfen, die wir haben, um Inklusion umzusetzen (Art, 4 UN- BRK). Der Neubau einer Förderschule kostet viel Geld, ist gesellschaftlich rückwärtsgewandt und setzt politisch ein negatives Zeichen.

Wenn Eltern eine wirkliche Wahl haben, dann wählen sie die Teilhabe für ihre Kinder.

Wir Eltern wünschen uns für unsere Kinder ein Leben in der Mitte der Gesellschaft und ohne Diskriminierung. Dabei gibt es keinen Unterschied zwischen „Förderschuleltern“ und „Inklusionseltern“. Wenn Eltern heute den Besuch einer Förderschule wählen und den Erhalt der Förderschulen fordern, dann aus folgenden Gründen: – Zur Zeit der Einschulung/des Schulwechsels gab es keinen Platz in der allgemeinen Schule für ihr Kind; – ihr Kind ist in der allgemeinen Schule deutlich spürbar nicht willkommen; – allgemeine Schulen sehen sich oder sahen sich nicht in der Lage, die besonderen Lernbedürfnisse unserer Kinder zu berücksichtigen; – Eltern haben keine Kraft mehr, um Inklusion durchzusetzen und durchgängig so zu begleiten, dass es ihrem Kind dort gut geht.

Wir richten die dringliche Bitte an Magistrat und Stadtverordnetenversammlung, ihr Bemühen um Inklusion aufrechtzuhalten und die allgemeinen Schulen gut auszustatten, damit Inklusion dort in Frankfurt zum Regelfall wird.

Einer neuen Förderschule bedarf es dann nicht mehr. Mit freundlichen Grüßen

Dr. Dorothea Terpitz

  1. Vorsitzende Gemeinsam leben Hessen e.V.

Vorheriger Beitrag Nächster Beitrag