„Wie kommt mein Kind gut durch die Schule? Was kann es lernen und wo am besten?“

Das sind Überlegungen, die wohl alle Eltern für ihre Kinder anstellen. Dabei mag es sicher interessant sein, über den üblichen Intelligenztest einen Indikator zu haben, wo das Kind gerade steht. Aber andersherum gedacht, soll das dann heißen, dass ein Kind mit einem IQ-Testwert von 80 noch im Lehrplan mitkommt, bei einem Testwert von 79 aber besonderen Förderbedarf hat? Und muss ich davon ausgehen, dass mein Kind, von dem ich doch bereits seit frühester Kindheit weiß, dass es entwicklungsverzögert ist, mit dem getesteten IQ-Wert von 49 nicht lesen und schreiben lernen könne? Sicher mag der IQ-Test in diesem Fall ein sicherer Indikator dafür sein, dass der Schwerpunkt in der Ausbildung tatsächlich eher auf lebenspraktische Aufgaben auszurichten ist. Was aber sagt er wirklich darüber aus, welches Entwicklungspotenzial mein Kind noch hat?

Wohl aufgrund der guten deutschen Tradition, immer alles ordentlich zu sortieren, werden Kinder bei Schulschwierigkeiten oder bei bereits erkannter Behinderung zunächst einmal einem Intelligenztest unterzogen. Die Abstufung der IQ-Testwerte lässt sich dann gut über das Raster der Förderschwerpunkte legen und somit schnell und problemlos feststellen, welche Förderschule zuständig/geeignet ist. So war die Praxis jahrelang in Deutschland.

Die Unterzeichnung der UN-BRK und die damit verbundene Verpflichtung, ein inklusives Schulsystem aufzubauen, stellt diese Klassifizierung im Zusammenhang mit dem Lernort aber doch infrage. Und damit muss auch die (ständige) Überprüfung der Intelligenz neu überdacht werden. Nun muss es doch das eigentliche Ziel sein, bei Kindern mit Förderbedarf über die angemessenen Vorkehrungen im Sinne der Inklusion nachzudenken. Um diese aber zu definieren braucht es unserer Erfahrung nach keinen Intelligenztest. In Bayern wird zur Einschätzung des sonderpädagogischen Förderbedarfs ein standardisiertes Intelligenztestverfahren (HAWIK IV) durchgeführt, durchweg auch bei Kindern mit geistiger Behinderung. Diese Testung ist eigentlich nur zulässig, wenn die Eltern schriftlich ihr Einverständnis gegeben haben. Immer mehr Fachleute kritisieren dort bereits, dass dieses Verfahren im Hinblick auf die pädagogische Förderung in der Schule eigentlich ungeeignet ist.

Standardisierte Verfahren zur Intelligenztestung sind auch in Hessen an der Tagesordnung. Die Sprachheilschule z.B. führt gern und regelmäßig die Testung als grundlegende Einschulungsvoraussetzung durch. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Eltern die Förderschule oder die Regelschule gewählt haben. Der CFT-1 Test gilt als anwenderfreundliches Verfahren zur Feststellung einer Grundintelligenz, die nicht auf den sprachlichen oder kulturellen Fertigkeiten basiert. Was also erst einmal als nicht sprachbasierte Testung einen guten Eindruck macht, gibt jedoch nur einen Ausschnitt aus den Stärken und Schwächen eines Schülers wieder und dient daher wohl weniger zur differenzierten Bestimmung der Fördermöglichkeiten (vgl. F. Petermann, T. Macha, Entwicklungsdiagnostik. Kindheit und Entwicklung, 14, 2005, S. 131-139).

Der Nutzen dieser automatisch durchgeführten Tests erschließt sich uns Eltern daher auch nicht wirklich. Aus verschiedenen Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) berichten uns die Eltern von der ständig neuen Intelligenztestung bei jeder erneuten Vorstellung des Kindes. Das Testverfahren dauert meist nicht lange (im Schnitt acht Minuten), der Test selbst wird den Eltern nicht erklärt, oft werden sie erst im Nachhinein nur grob über das Ergebnis informiert. So wurde z.B. ein fünfjähriges Kind mit Sprach- und Entwicklungsverzögerung getestet. Der zuständige Arzt teilte den Eltern das Ergebnis, nämlich einen IQ-Wert von 79 mit und erklärte den verstörten Eltern, sie müssten sich mit dem Gedanken anfreunden, dass ihr Kind wohl nie einen Schulabschluss erreichen werde. In einem anderen Fall wurden die Eltern ohne weitere Erklärung kurz herausgeschickt, dann wurden sie wieder ins Zimmer geholt und man präsentierte ihnen das Ergebnis, das im Normalbereich lag. Als sie sich beschwerten, dass man ihr Kind, da es eine „nur“ Körperbehinderung habe, nicht dauernd einem Intelligenztest unterziehen müsse, entgegnete ihnen der Leiter des SPZ, das eben so üblich. Das Kind besucht aufgrund seiner Körperbehinderung den inklusiven Unterricht und kommt gut im Schulstoff mit.

Bei einer Schülerin mit dem Förderbedarf Geistige Entwicklung wurde vor der Einschulung und in den ersten Schuljahren mehrfach ein Intelligenztest gemacht. An den Testverfahren war sicher nichts auszusetzen, sie wurden mit Zeit und Ruhe von Fachpersonal durchgeführt und der IQ-Wert befand sich erwartungsgemäß in einem sehr niedrigen Bereich. Doch was war die logische Konsequenz? Das Mädchen kam auf die Schule „für Praktisch Bildbare“. Doch die Eltern wollten mehr. Nach langem Kampf und durch die Novellierung des Schulgesetzes bot sich die Möglichkeit zur Inklusion. In der allgemeinen Schule begann sie dann lesen und schreiben zu lernen. Sicher, es geht sehr langsam, aber entgegen der Prognosen aus den ersten Jahren, kann sie mittlerweile – sie ist jetzt 13 Jahre alt – einfache Texte lesen und schreiben. Welche Rückschlüsse läßt also ein niedriger IQ-Wert zu? Ist das Wissen darum nicht vielmehr defizit-orientiert und entmutigt eher anstatt aufzubauen?

Bei der Einschulung eines hörbehinderten Jungen mit Down-Syndrom wird ein Intelligenztest (SON-R 1) gemacht, dessen Ergebnis (IQ-Wert bei 54) ein paar Jahre später als Grundlage bei der Erstellung einer förderdiagnostischen Stellungnahme zum Förderbedarf Geistige Entwicklung dient. Korrekterweise wird im Gutachten berichtet, dass der Test damals unstrukturiert durchgeführt wurde und der Junge Verweigerungstendenzen zeigte. Es werden darauf aufbauend eine Reihe von Fördermaßnahmen vorgeschlagen, die die Schule für Hörbehinderte auch ohne Intelligenztestung in der Arbeit mit dem Jungen durchführt und die wohl dazu beitragen, dass er sich zu allseitiger Zufriedenheit gut entwickelt. Nun werden die Eltern jedoch aufgrund des damals ermittelten IQ-Wertes damit konfrontiert, zu einer Förderschule für Geistige Entwicklung zu wechseln.

Im Einschulungsverfahren eines kleinen Jungen mit Verdacht auf frühkindlichen Autismus einigten sich alle Beteiligten im Förderausschuss auf Basis der förderdiagnostischen Stellungnahme auf den Förderbedarf Lernhilfe. Erfreulicherweise stand im pädagogischen Gutachten eine IQ Testung nicht zur Debatte. Der Junge kam in die Schule für Lernhilfe. Da es jedoch große Probleme im emotionalen/sozialen Bereich gab, beantragten die Eltern eine zusätzliche Teilhabeassistenz. Voraussetzung für die Bewilligung ist ein fachärztliches Gutachten aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die zuständige Ärztin wiederum unterzog den Jungen zunächst einem Intelligenztest und stellte fest, das sein IQ-Wert im Bereich der geistigen Behinderung liegt. Ihre abschließende Diagnose schloss Autismus aus und stellte eine geistige Entwicklungsverzögerung fest. Daraufhin versuchte sie die Eltern zu überzeugen, dass ihr Kind doch besser in einer Schule für Geistige Entwicklung aufgehoben sei. Während dieser gesamten Diagnosephase ging der Junge in die Schule für Lernhilfe und lernte dort wie die anderen Kinder erste Worte zu schreiben und zu lesen. Er wird weiterhin im Förderbedarf Lernhilfe beschult und macht gute Fortschritte. Um Diagnosen zu bestätigen oder zu untermauern, wird gern und oft nachgestet. Die Mehrfachtestung wird gerade bei hochbegabten Kindern und Jugendlichen oft zum Problem. Prof. Eckerle schreibt dazu folgendes:

„Die Risiken von Mehrfachtestungen liegen neben der Testkompetenz der Testleiter vor allem in der Testsituation, und zwar immer dann, wenn die in den Testhandbüchern geforderten Bedingungen für die Testperson nicht vorliegen: Wohlbefinden, Vertrauen und Frei sein von Druck. ... Liegen mehrere Testergebnisse vor, dann sollte der höchste Test akzeptiert werden. Diese Regel ergibt sich aus der Logik des Testens, dass das Potential, nicht die situationsabhängige Performanz gemessen werden soll. Demnach kann ein Kind, korrekte Testdarbietung vorausgesetzt, nicht zu hoch bewertet werden; es kann lediglich dazu kommen, dass es unter optimierten Bedingungen Leistungen erreicht, die es in seiner schulischen Umgebung nicht wiederholen kann.“

(vgl. Prof. Anne Eckerle, http://www.hochbegabten-hilfe.de/Mehrfachtestungen.html)

Dies gilt gewissermaßen auch für Kinder mit besonderem Förderbedarf. Während bei der Hochbegabung das Testergebnis nur darüber entscheidet, ob die Förderung überhaupt einsetzt, verhält es sich bei Kindern mit besonderem Förderbedarf etwas komplexer. Hier steht für die Eltern immer sofort die drohende Frage im Raum: Bleibt mein Kind an der allgemeinen Schule und erhält es dort die nötige Förderung oder muss es auf eine Förderschule? Oft kommen Eltern mit den sonderpädagogischen Gutachten zu uns und berichten, dass ihnen daraufhin der Besuch der Förderschule nahegelegt wurde. Begründet wird das häufig mit der im Sinne der Inklusion eigentlich überholten Kategorisierung Intelligenzquotient gleich Schulform.

Dabei ist das Ganze doch viel komplexer:

„Kinder mit Down-Syndrom gelten in der öffentlichen Meinung als eingeschränkt bil- dungsfähig. Doch sind alle höheren psychischen Systeme - wie z. B. das Empfinden, Wahrnehmen, Erinnern und Denken - nicht angeboren, sondern entwickeln sich im sozialen Umgang. Dem menschlichen Gehirn ist es möglich, funktionelle Systeme zu bilden. Das ist eine biologische Tatsache. Die Kinder unterscheiden sich in Bezug auf das Chromosom 21, nicht aber in Bezug auf die Fähigkeit ihres Gehirns, in Abhängigkeit ihres kulturellen Umfelds stabile funktionelle Hirnsysteme zu bilden. Es ist unsere Kultur, die sie sprachlos macht.“

(Christel Manske, Das Down-Syndrom - Begabte Kinder im Unterricht: Meine Erfahrungen mit diesen Kindern, 2011.)

Frau Manske schreibt weiter:

„Die Intelligenz aller Kinder entspricht der Normalverteilung, solange die Normalverteilung das Messinstrument für die Intelligenz ist. Auch bei diesen Kindern gibt es Intelligenzunterschiede, obwohl sie alle mehr oder weniger, so heißt es, geistig behindert sind. Die Frage, die uns peinigen müßte, ist, was an der Normalverteilung normal ist. Der einzig sinnvolle Test, der etwas über die Lernfähigkeit der Kinder aussagen würde, wäre adäquater Unterricht. Doch den gibt es zur Zeit nicht.“ (S. 175)

So können wir, anstatt von vorne herein infolge eines niedrigen IQ-Wertes primär auf die lebenspraktischen Aufgaben zu verweisen, diesen Kindern im Sinne der Inklusion doch nur das bestmögliche Bildungsangebot bieten.

Wir bestreiten nicht, dass der Intelligenztest bei der Erstellung einer differenzierten Diagnostik einen Anhaltspunkt zum Entwicklungsstand des Kindes/Jugendlichen geben kann. Doch wir fordern, dieses Mittel nicht ständig aufs neue als Standardinstrument einzusetzen, um die grobe Einteilung in die jeweiligen Förderschwerpunkte (allgemeine Schule mit präventiven Maßnahmen/Förderschwerpunkt Lernhilfe/Geistige Entwicklung) vorzunehmen. Viel zu oft wird mit der Testung die defizit-orientierte Sichtweise auf das Kind auf angeblich objektive Art und Weise untermauert und dient dann als Grundlage für die Elternberatung zur Entscheidung Regelschule – Förderschule.

Stattdessen wünschen wir uns, dass jedes Kind mit seinen Stärken und seinen Schwächen differenziert betrachtet wird. Und zwar im interdisziplinären Austausch unter den Fachleuten im Sinne der Förderung und nicht in Konkurrenz der jeweils Verantwortlichen untereinander. Inklusion braucht keine Klassifizierung nach Können und Nicht-Können und schon gar keine Einteilung oder Prognose bzgl. der Schulform. Im Rahmen der Inklusion muss jegliche Form der Diagnose dazu dienen, die bestmögliche Förderung für das einzelne Kind zu finden. Und brauchen wir dafür dann wirklich regelmäßig einen Intelligenztest oder wäre die differenzierte pädagogische Überprüfung von Stärken und Schwächen nicht doch effizienter und zielorientierter für eine gute individuelle Förderung. Dr. Dorothea Terpitz, Februar 2015

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