Ausschluss vom Schulbesuch wegen Autismus

Brief der Mutter eines Kindes mit Autismus-Spektrums-Störung an die Schulbehörde

03.04.2022

Sehr geehrte Damen und Herren,

im Januar 2020 haben Sie bereits einen Brief von mir erhalten, in dem ich Sie in Ihrer Funktion als Autismusbeauftragten darum bat, Schulen dahingehend zu unterstützen, zielführend mit autistischen Kindern umzugehen, so dass sie weiterhin in die Schule gehen und am Unterricht teilhaben können.

Vorangegangen war damals die Suspendierung unserer Tochter von der Grundschule im Herbst 2019, wonach die Schule ihr keine Möglichkeit mehr angeboten hatte, am Unterricht teilzunehmen.

Im Dezember 2021 hat die IGS unsere Tochter suspendiert und im Januar 2022 konnte sie nicht zurückkehren, da es keine Teilhabeassistenz und keine Möglichkeit auf Wiedereingliederung ohne Teilhabeassistenz gab. Beim Runden Tisch am 14.12.2021 waren Sie vor Ort in der IGS und haben einige Tipps zum Umgang mit autistischen Kindern gegeben. Im Gespräch zeigte sich, dass viele Punkte offen und unerledigt waren, so z.B.:

  • die Rolle einer Teilhabeassistenz und deren Aufgaben
  • Nachteilsausgleich, Förderplan
  • Einbindung der Förderlehrerin etc.

Die Schule selbst schien in vielen Dingen völlig überfragt und überfordert. Unsere Tochter ist seit Dezember – bis auf ein paar wenige einzelne Stunden (die ich vehement als Wiedereingliederung einfordern musste) – nicht mehr in der Schule gewesen und ist bis dato zu Hause.

Nach wochenlangen Schriftwechseln und Telefonaten wird sie nun wieder die Schule wechseln. Im Vordergrund steht nun auch eine enorme Schulangst nach sehr langer Schulabstinenz. Eine weitere Herausforderung zum Thema Autismus.

Die lange Schulabstinenz ist durch die IGS verursacht, die unser Kind nicht zur Schule gehen lässt, da sie aktuell keine Teilhabeassistenz hat. Ihre Tipps in puncto Autismus konnten somit auch nicht umgesetzt werden.

Für den Schulwechsel haben wir nun von einem Träger die Zusage für eine Teilhabeassistenz ab Ende April. Bis dahin wird sie mehr als 4 Monate nicht mehr am regulären Unterricht teilgenommen haben.

Sie ist online mit Lernstoff versorgt worden, dies auch nur in adäquater Form nach mehrmaligem Nachhaken in der Schule und über das Schulamt. Regelmäßige Rückmeldungen zu ihren Aufgaben hat sie nur von sehr wenigen Lehrkräften erhalten und dies bis auf wenige Ausnahmen auch nur Kurzform per Teams. Das ist alles andere als Inklusion. Selbst ein Kind ohne Einschränkungen würde so eine Situation nicht unbeschadet überstehen.

Nachdem Menschen mit Autismus sowieso wenig soziale Kontakte haben, ist sie seit Dezember gänzlich sozial isoliert – bis auf die Familie und eine private Nachhilfelehrerin. Somit haben sich ihre Sozialängste verschlimmert.

Sie selbst ist inzwischen in dem Glauben, dass es keine geeignete Schule für Kinder wie sie gibt und fühlt sich in ganzer Linie ausgeschlossen. Was kann ich antworten?

Ich bitte Sie erneut in Ihrer Funktion, Schulen dahingehend weiterhin zu unterstützen und zu schulen, wie man mit autistischen Kindern und deren zuweilen herausforderndem Verhalten umgeht.

Schulbericht und Stellungnahme sind bei Interesse einsehbar in der Schulakte. Das Verhalten unserer Tochter, welches in autistischer Wahrnehmung begründet ist, wird nicht als Behinderung wahrgenommen, immer wieder wird von ihr ein übliches Verhalten erwartet, da sie dieses nicht konstant liefern kann, werden u.a. Erziehungsfehler unterstellt.

Bitte arbeiten Sie daran, dass Lehrkräfte dahingehend geschult werden, dass übliche Erziehungs-und Strafmaßnahmen sowie übliche schulische Konsequenzen bei Menschen mit Autismus nicht die übliche Wirkung erzielen sondern Situationen aufgrund der anderen Wahrnehmung noch verschärfen. Situationen eskalieren, Aggressionen nehmen zu und Kinder wie Lehrkräfte sind überfordert.

Menschen mit Autismus können nicht an allen Tagen gleich „funktionieren“, Dinge, die an gewissen Tagen gelingen, sind an anderen Tagen nicht möglich, das hat nichts mit Trotz und „sich nicht an Absprachen halten“ zu tun. Masking ist extrem anstrengend und ressourcenraubend, es führt zu plötzlichen heftigen Overloads und Meltdowns.

Machen Sie sich stark dafür, dass Lehrkräfte Unterstützung von ausgebildeten Sonderpädagogen erhalten. Machen Sie sich stark dafür, dass Lehrkräfte faire Kollegen bleiben. Wenn eine Schule überfordert ist, muss das Kind an die nächste Schule, und neue Lehrkräfte haben die schwierige Aufgabe, auf einer zerrütteten Schulsituation aufzubauen.

Die neue Grundschule hat damals unsere Tochter aufgefangen und ihr den Weg zurück in den Schulalltag gegeben. Daher wissen wir, dass es Direktoren und Lehrkräfte gibt, die dazu in der Lage sind. Mit dieser Hoffnung gehen wir in einen erneuten Schulwechsel.

In aller Offenheit, mein Glaube an Inklusion in Schulen ist dennoch zutiefst erschüttert. Vor Anmeldung an die IGS hatte ich im Frühjahr 2020 mit dem „Förderstufenleiter / Koordination Inklusion“ bzgl. des Themas Kontakt. Damals wurde mir versichert, dass man sich auskenne, auch das Thema THA und ihrer Rolle sei bekannt. Am 14.12.2021 fehlten wie oben geschildert immer noch wichtige Bausteine, die zu der inklusiven Beschulung gehören.

Wenn Inklusion scheitert, dann sind die Familien damit allein gelassen. Ein Kind geht nicht mehr aus dem Haus, muss in Eigenregie unterrichtet werden, muss aufgefangen werden, muss getröstet und abgelenkt werden. Alles so nebenbei, neben der Berufstätigkeit, neben allen anderen Tätigkeiten und Herausforderungen, neben den Geschwistern. Mal eben für einen Monat, zwei, drei, vier Monate und länger? Unklar wann eine neue Perspektive kommt.

„Jeder fünfte Schüler mit Autismus wurde schon einmal von der Schule ausgeschlossen, einige monatelang. Für mehr als die Hälfte gab es keine Ersatzschule – die Eltern sprangen als „Lehrer“ ein.“ (Zitat von der Webseite der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW))

Mit freundlichen Grüßen

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