Wie die sonderpädagogische Diagnostik Kinder für „geistig behindert“ erklärt

Im Odenwaldkreis werden Kinder mit komplexen Sprach- und Körperbehinderungen durch die Sonderpädagogik in den Förderschwerpunkt „geistige Entwicklung“ (GE) ein- und damit in den untersten Bildungsgang aussortiert. Sie werden damit von Anfang an in ihrer Lernentwicklung behindert, ohne dass eine geistige Behinderung zweifelsfrei festgestellt worden wäre.

Schlimmer noch, selbst bei Kindern, bei denen nachweislich durch ärztliche Gutachten festgestellt worden ist, dass zwar eine Mehrfachbehinderung aber eben KEINE geistige Behinderung vorliegt, soll der Förderschwerpunkt GE schon festgestellt werden, wenn die Schulbehörde ohne vertiefte Prüfung glaubt, davon ausgehen zu können, dass das Kind den schulischen Lerninhalten nicht ohne zusätzliche individuelle Förderung (= Mehrarbeit für Lehrkräfte) folgen können werde.

Eine gezielte und differenzialdiagnostische Abgrenzung zum Förderschwerpunkt Lernen zieht die Schulbehörde nicht in Betracht, wenn sie einmal ein IQ-Ergebnis unter 70 durch einen einfachen IQ-Test ermittelt hat. Dabei schreibt das hessische Schulrecht vor, dass vor der Herabsetzung des Bildungsgangs der Sachverhalt umfassend geprüft werden muss und der Förderschwerpunkt „geistige Entwicklung“ GE nur festgestellt werden darf, wenn zweifelsfrei eine geistige Behinderung beim Kind vorliegt.

Die Förderschule als „Schutzraum“ – Zur Selbsterhaltung eines fragwürdigen Systems

Mit der Feststellung der vermeintlichen Notwendigkeit des Förderschwerpunktes GE durch die Sonderpädagogik werden die Eltern anschließen direkt in die Förderschule GE beraten. Von Inklusion wird grundsätzlich abgeraten, weil die Akteure im System Schule, die es doch besser wissen sollten, persönlich die Ansicht vertreten, das betroffene Kind werde im allgemeinen System „untergehen“ und bräuchte den „Schutz“ der Förderschule. Auch die allgemeine Schule weiß immer zu berichten, was das Kind mit Behinderung im allgemeinen System voraussichtlich vertragen wird. Die offene Ablehungshaltung der allgemeinen Schule, das gute Zureden und die warme Aufnahmebereitschaft der Sonderpädagogik, läßt den betroffenen Eltern dann faktisch keine Wahl mehr.

Die 2009 ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvetion bleibt bisher weitgehend ohne Wirkung:

Als Konsequenz zur UN-BRK ist Inklusion nach dem Schulgesetz seit über 10 Jahren der Regelfall. Alle Kinder werden an der örtlichen Grundschule aufgenommen und sollen selbsverständlich inklusiv unterrichtet werden. Nur die Eltern dürfen die Förderschule wählen. Das Elternwahlrecht nutzen die zuständigen Sonderpädagog*innen, um den Eltern den Förderschwerpunkt GE für ihr Kind sowie die Wahl der Förderschule einseitig idealisiert und alternativlos darzustellen. Den betroffenen Eltern, die doch nur das Beste für ihr Kind wollen und sich nicht wirklich auskennen, bleibt also nur diese Wahl.

Bleiben die Eltern konsequent und aktiv bei ihrem Wunsch der inklusiven Beschulung, so werden sie bedrängt. Sie möchten sich bitte unverzüglich einem der raren Angebote der sog. „gruppeninklusiven Beschulung“ anzuschließen, die es in dieser Form nur in diesem Schulamtsbezirk gibt. Dort werden mehrere Kinder mit dem Förderschwerpunkt GE „gebündelt“, damit eine Förderschullehrkraft sich dann um diese Kinder kümmert. Dabei ist Inklusion im Einzelfall an vielen Grundschulen in Hessen auch für den Förderschwerpunkt GE selbstverständlich möglich.

Die Eltern werden im Verlauf des sonderpädagogischen Feststellungsverfahrens zu keinem Zeitpunkt über die weitreichenden Folgen ihrer Zustimmung zum Förderschwerpunkt GE informiert. Die Förderschullehrkräfte sagen ihnen nicht, dass dieser Förderschwerpunkt gleichzeitig der unterste Bildungsgang ist, der keine Lerninhalte für einen Schulabschluss hat und heute immer noch fast ausschließlich in die Werkstatt für behinderte Menschen (WfBM) führt. Das Kind verliert also von Anfang an nicht nur den Zugang zu Bildung, sondern auch alle Chancen auf dem späteren Arbeitsmarkt.

Wenn die Eltern in den kommenden Jahren feststellen müssen, dass ihr Kind trotz der vollmundigen Versprechungen der Förderschule letzlich kaum schulische Lernfortschritte gemacht hat, haben die Lehrkräfte der Förderschule die Erklärung gleich parat: Es liege eben an der Behinderung des Kindes, dass es nicht auf dem Lernstand sei, den die Eltern sich wünschen. Die Wahl zur Förderschule und das Einverständnis der Eltern für den lebenspraktischen Bildungsgang ist dann im Prinzip nicht mehr reversibel, denn das Kind hat so große Lücken beim Lesen, Schreiben, Rechnen, dass es die wohl kaum mehr aufholen können wird.

Die Entscheidung für den Förderschwerpunkt GE sollte mit Bezug auf die Fähigkeiten, das Potenzial und die Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes deshalb in jedem Einzelfall gut überlegt, sorgsam abgewogen werden und fachlich wirklich gerechtfertigt sein. Sonst verstößt die Abklassifizierung des Kindes in die Kategorie „geistig behindert“ (vgl. § 50 Abs. 3 HSchG) gegen sein individuelles Recht auf Bildung.

Der Intelligenztest als Instrument zur sorglosen Abklassifizierung des Kindes:

Ausgehend von einem oberflächlich durchgeführten Intelligenztest beim Kind, das der testenden Lehrkraft zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannt ist (dies gilt beiderseits, auch das verstörte Kind befindet sich plötzlich in einer ihm völlig neuen und beängstigenden Situation), ermittelt, ob der Förderschwerpunkt GE infrage kommt. Dazu nutzen die Lehrkräfte der Förderschule GE den SON-R-Test. Der Test ist simpel strukturiert und mit dem sprachfreien Bildmaterial auf die visuelle Wahrnehmung ausgerichtet. Die Testdurchführung ist einfach für die Sonderpädagogik, viel einfacher als die üblichen mehrdimensionalen Tests.

Dieser Test ermittelt aber nur ein Gesamtergebnis und dient nur dazu, über die Zahl im Endergebnis das Kind in den jeweiligen Bildungsgang „einzusortieren“: Ein Wert unter 85 bedeutet Förderschwerpunkt und Bildungsgang Lernen, bei einem Wert unter 70 stellen die Sonderpädagoginnen den Förderschwerpunkt und Bildungsgang geistige Entwicklung (GE) fest. Damit gilt das Kind dann als „geistig behindert“. Der Test ist mit Blick auf die mögliche Bildungskarriere des Kindes nicht sinnvoll interpretiertbar. Die üblicherweise getesten Einzelbereiche, die erkennen lassen würden, wo die Stärken des Kindes liegen könnten und wie sich die Schwächen kompensieren ließen, um daraus Rückschlüsse über die Art der Förerung zu ziehen, sind bei diesem Test nicht ablesbar.

Das Vorliegen einer geistigen Behinderung darf der Test allein jedoch nicht bestätigen. Er kann auch keine zuverlässigen Erkenntnisse zur Förderung bei Kindern mit Schwierigkeiten in der visuellen Wahrnehmung u.a. aufgrund ihrer körperlich-motorischen Einschränkungen liefern. Es ist daher verantwortungslos, wenn die Sonderpädagogik im Odenwaldkreis nur auf der Basis eines SON-R-Tests glaubt, die geistige Behinderung beim Kind festgestellt haben zu wollen. Die privaten Nachtestungen durch qualifizierte und mehrdimensionale Tests führten in diesen Fällen zu anderen Ergebnissen bis hin zu einer Intelligenz im durchschnittlichen Bereich.

Die Sonderpädagog*innen für den Förderschwerpunkt GE im Odenwaldkreis hinterfragen das über diesen Test ermittelte Gesamtergebnis nicht. Ihre Aussagen zum vermeintlichen Leistungspotenzial des Kindes sind oberflächlich, unsauber ermittelt und damit teilweise schlichtweg falsch.

Die Mär von der zusätzlichen Ressource:

Die Lehrkräfte der Förderschule GE, die die Diagnostik durchführen sollen, suggerieren den Eltern, ihr Kind könne mithilfe der zusätzlichen Ressource gefördert werden: Es ist richtig, mit dem Förderschwerpunkt GE erhalten betroffene Schüler*innen statt der systemischen Zuweisung von umgerechnet ca. 2,5 Förderstunden pro Woche eine Ressource von knapp 5 Förderstunden pro Woche zur individuellen Förderung. Doch was helfen 2,5 Stunden Förderung mehr in der Woche (im Vergleich zu den umgerechnet 2,5 Förderstunden im Förderschwerpunkt Lernen), wenn das Kind dann doch nicht auf seinem tatsächlichen Leistungsstand gefördert wird, sondern nur durch lebenspraktische Inhalte (Buchstaben nachspuren, Kneten, Malen, Üben mit der Schere zu schneiden etc.) beschäftigt wird. Der Förderschwerpunkt GE hat im Odenwaldkreis noch nie eine auf die Art der Behinderung zugeschnittene passgenaue Förderung vermittelt. Im Gegenteil, mit dem pauschalisiert lebenspraktischen Förderanspruch „geistige Entwicklung“ gehen weitere wichtige Förderbereiche wie Sprachförderung, Aufbau der Schriftsprache, mathematisches Grundverständnis, visuelle Wahrnehmung etc. verloren.

Die Menge der individuelle Förderung sagt nichts über deren Qualität

Eine quantitativ hohe individuelle Förderung, die sich dann aber nur auf die lebenspraktischen Kompetenzen beschränkt, ist nicht nicht gleichzusetzen mit der Notwendigkeit einer gezielten, auf die Stärken und Schwächen des Kindes angepassten Förderung. Die begrenzung des Kindes auf den untersten Bildungsgang erfüllt dann nicht den eigentlichen individuellen Rechtsanspruch auf Bildung:

Der Bildungsgang „geistige Entwicklung“ (GE oder wie früher als „praktisch bildbar“ bezeichnet) ist für die Kinder mit Sprach-, Körper- und Mehrfachbehinderungen nicht das richtige Lernangebot, wenn sie nicht nachgewiesenermaßen eine geistige Behinderung haben, die die kognitive Aufnahmefähigkeit begrenzt. Denn GE zielt ab auf die reine Vermittlung von lebenspraktischen Kompetenzen, vorrangig z.B. Soziale Beziehungen, Bewegung und Mobilität, Selbstversorgung, Gesundheitsvorsorge (vgl. Richtlinien Förderschwerpunkt GE, HKM 2013). Die schulischen Inhalte der allgemeinen Schule wie die Vermittlung der Grundkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen treten dabei in den Hintergrund. Haben Eltern erst einmal GE für ihr Kind akzeptiert, wird es für sie im laufenden Schulbetrieb dann schwierig, die gezielte Förderung beim Lesen, Schreiben, Rechnen für ihr Kind einzufordern.

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