Es werden in den letzten Jahren immer mehr Kinder mit Behinderungen an allgemeinen Schulen beschult. Das ist sehr erfreulich. Jedoch erleben die Eltern von Kindern mit Behinderung, dass ihre Kinder dort oft nicht Teil des Klassenverbands sind, sondern gebündelt in separierenden Kleingruppen mit z.T. klangvollen Namen (Lerninsel, Lernpalme, Lernboot, Präventionsraum etc.) beschult werden und letztlich nicht wirklich Teil des Klassenverbands sind, zu dem sie doch eigentlich gehören. Als Folge der AnÂstands- und Separationsregelungen während der Corona-Pandemie haben die allgemeinen Schulen zunehmend exklusive Konzepte zur vermeintlich besseren Förderung der Kinder mit Behinderungen entwickelt. Die Eltern werden damit beruhigt, dass die Kleingruppe (oft sogar mit Kindern aus allen Jahrgangsstufen!) doch mehr spezialisierte Förderung durch die Sonderpädagogik bringen kann.
Die Zahlen zur Inklusion sagen also nichts über die Qualität von Inklusion. Denn Inklusion bedeutet, dass kein Kind vom Unterricht in der allgemeinen Schule ausgeschlossen wird, sondern gleichberechtigten Zugang zu den Bildungsangeboten erhält. Dafür gibt es Schul- und Unterrichtskonzepte, die Heterogenität und Vielfalt im Blick haben, und endlich auch in der Praxis Anwendung finden. Denn Unterricht in inklusiven Schulen beinhaltet Phasen des selbständigen Lernens und Phasen des kooperativen, gemeinsamen Lernens. In den Phasen des selbständigen Lernens können alle Schüler mithilfe individueller Lernpläne nach ihren Bedürfnissen und in ihrem Tempo lernen. In den Phasen des gemeinsamen Lernens können die Ressourcen der Mitschüler genutzt werden: Kinder lernen von und mit Kindern. Dafür müssen sie nicht in eigene Räume separiert werden.
Die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention durch die Bundesregierung hat in Deutschland eiÂnen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel eingeleitet. Niemand hätte bei der Unterzeichnung der KonÂvention vorhersagen können, dass dieser Akt eine solche Strahlkraft auf alle gesellschaftlichen Prozesse in Deutschland haben und mit solcher Wucht die bestehenden Systeme treffen wird. Die Idee der InklusiÂon basiert auf der UN-Behindertenrechtskonvention, d.h. sie bezieht sich zu Recht in erster Linie auf MenÂschen mit Behinderungen, sie fordert aber die grundsätzlich die selbstbestimmte Teilhabe aller Mitglieder der Gesellschaft. Sie verbietet Ausgrenzung bzw. Aussonderung jeglicher Art. Als Weiterentwicklung der integrativen Idee werden alle Mitglieder der Gesellschaft von vorneherein als vollwertig und gleichberechtigt akzeptiert. Nicht einzelne müssen sich anpassen, sondern die Gesellschaft passt sich an, indem sie die Heterogenität und Vielfalt berücksichtigt.
Die Verwirklichung eines inklusiven Schulsystems ist die Vorgabe der UN-Behindertenrechtskonvention und das Ziel, das durch gesetzlichen Regelung in jedem Bundesland erreicht werden muss. Diesem Ziel widerspricht die Aufrechterhaltung eines zweigeteilten Systems in allgemeine Schule und Förderschule.
Inklusion ist ein individuelles Grundrecht, das gesellschaftlich nur anerkannt und realisiert werden kann, wenn ein klares Bekenntnis zur gemeinsamen Beschulung von Kindern mit und ohne Förderbedarf durch die entsprechende Gesetzgebung vorgenommen wird.
Ein inklusives System schließt die Trennung in allgemeine Schule und Förderschule grundsätzÂlich aus. In dem Augenblick, in dem einzelne Schülerinnen und Schüler nach Fähigkeiten oder FörderÂschwerpunkten in einer gesonderten Schule (wie fachlich qualifiziert diese auch immer sein mag) geÂtrennt von den anderen Schülerinnen und Schülern aufgenommen werden, verlieren diese ihre MöglichÂkeit zur vollen gesellschaftlichen Teilhabe. Das von allen Seiten viel zitierte Argument des „Kindeswohls“ greift hier nicht. Denn es kann nie zum Wohle des Einzelnen sein, gezwungenermaßen von der Allgemeinheit ausgesondert zu werÂden.
Auch der „Schutzraum Förderschule“ ist höchst fragwürdig. Schule muss grundsätzlich so gestaltet sein, dass sie jedem einzelnen Schüler einen angemessenen Raum bietet, sich zu entfalten und seine individuÂellen Fähigkeiten zu entwickeln. Die Forderung nach 100% Inklusion greift daher nicht die Fachexpertise der Sonderpädagogik bzw. das Spezialistentum der jeweiligen Förderschulen an. Unser System Schule muss sich jedoch so verändern, dass diese Expertise unter dem Dach der allgemeinen Schule in einem GeÂsamtsystem zusammenwächst. Die Umgestaltung des deutschen Schulsystems in ein inklusives wird daÂher auch weiterhin die eigentliche Herausforderung der Inklusion bleiben.
Es mangelt derzeit an Ressourcen, entweder müssen zusätzliche Stellen geschaffen werden oder es muss – so wie wir es uns wünschen – das komplette Förderschulwesen in ein inklusives System umgelenkt werÂden. Bildung ist Aufgabe des Staates, d.h. dieser muss die angemessenen Vorkehrungen für ein gutes Schulsystem bereitstellen. Damit ist Inklusion zuallererst die Angelegenheit der politisch VerantwortliÂchen, von denen wir erwarten, dass sie zum Wohle unserer Kinder diese Aufgabe ernst nehmen.
Mit Artikel 4 der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichten die Vertragsstaaten sich, „die volle VerÂwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu gewährleisten und zu fördern“. Die Verwirklichung der Rechte muss unter Ausschöpfung der verfügbaren Mittel geschehen, Ziel ist das inklusive Gemeinwesen, in dem es (behinderten) Menschen jederzeit möglich ist, ihr Leben selbstbestimmt und ohne EinschränÂkung/“Behinderung“ durch äußere Barrieren zu führen. Diese Barrieren zu überwinden und VorkehrunÂgen für die volle gesellschaftliche Teilhabe eines jeden Einzelnen zu schaffen, erfordert daher auch die Mitwirkung eines jeden Mitglieds unserer Gesellschaft. Ein wesentliches Hemmnis auf dem Weg zur inkluÂsiven Gesellschaft sind die Barrieren in den Köpfen, die Vorstellung von der Unabänderlichkeit einer BeÂhinderung, die sich nur durch breites gesellschaftliches Umdenken erreichen läßt.
Da Inklusion ein gesamtgesellschaftlicher Auftrag ist, muss er auch im großen gesellschaftlichen ZusamÂmenhang gesehen werden. Das inklusive Gemeinwesen und das inklusive Bildungssystem bedingen sich gegenseitig. Beides entsteht jeweils nur, wenn alle Beteiligten in jedem Einzelfall gemeinsam am Ziel der Inklusion arbeiten. Inklusion erfordert die Vernetzung aller Akteure, beim Aufbau von inklusiven BilÂdungsregionen, Kooperationsmodellen etc. hat sich bereits gezeigt, dass sich Inklusion dort gut entwiÂckelt, wo sie als gemeinsames Ziel allem vorangestellt wird. Auch in den jeweiligen Schulen ist Inklusion ohne die inklusiven Schukonzepte mit der Gestaltung und dem Aufbau von mulitprofessionellen Teams nicht denkbar.
Inklusion ist kein statischer Zustand und der Weg dorthin muss nicht unbedingt ein geradliniger sein. Es bedarf der Mitwirkung aller Beteiligten und doch kann es immer wieder aufs Neue zu Problemen komÂmen, Menschen mit besonderen Bedürfnissen brauchen besondere Unterstützung, diese muss immer wieder überdacht und angepasst werden. Aber Inklusion funktioniert dann, wenn alle Beteiligten kontiÂnuierlich zusammenarbeiten, miteinander sprechen und sich gegenseitig unterstützen. Inklusion ist kein statischer Zustand, es handelt sich vielmehr um einen dauerhaften Prozess, der sich laufend verändert und immer wieder neu gelebt werden muss. Die Aufmerksamkeit aller Beteiligten und der Wille, dem Kind gemeinsam eine erfolgreiche Schulzeit zu ermöglichen, sind die wesentlichen Gelingensfaktoren.