Gemeinsam leben Hessen e.V. sieht mit großer Sorge der neuen Legislaturperiode entgegen. CDU und SPD sprechen im Koalitionsvertrag von den aktuellen Herausforderungen im Bereich Schule und Bildung und wollen sich einsetzen für die Schule der Zukunft. Doch trotz der jüngsten PISA-Ergebnisse will die neue Landesregierung das
„Schulsystem in seiner historisch gewachsenen Vielfalt bewahren und deshalb keine Systemdebatten führen“.
Die neuen Koalitionspartner machen sich zudem
„stark für Erhalt und die bedarfsgerechte Weiterentwicklung der Förderschulen in Hessen“.
Dabei ist längst nachgewiesen, dass die überwiegende Mehrheit (72,7 Prozent) der Förderschüler*innen die Schule ohne anerkannten Abschluss verlässt und damit so gut wie keine Chancen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt hat.
Die Koalitionspartner sprechen von den
„Grenzen der gemeinsamen Beschulbarkeit“
und setzen damit ein deutliches Zeichen gegen die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK).
Schon seit 2009 ist Deutschland aufgefordert, den sich aus der UN-BRK ergebenden Paradigmenwechsel schrittweise umzusetzen und die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung qualitativ hochwertig und für Alle zu organisieren. Die Ausgrenzung einzelner Kinder mit Behinderungen aus dem Angebot des Gemeinsamen Lernens verletzt die Würde und das Selbstwertgefühl der Betroffenen und verstößt somit gerade gegen das Kindeswohl.
Auch die hessische Landesregierung ist verpflichtet, „das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen und ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen zu gewährleisten“ (Art. 24 UN-BRK).
Die Verantwortlichen in Politik und Schule müssen, „angemessene Vorkehrungen für die Bedürfnisse des Einzelnen“ treffen und „Menschen mit Behinderungen innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung“ leisten (Art. 24 UN-BRK).
Auch das Bundesverfassungsgericht bestätigte mit seinem Beschluss vom 19.11.2021 (AZ 1 BvR 971/21) diesen individuellen und diskriminierungsfreien Rechtsanspruch auf Bildung:
„Kinder selbst haben ein aus Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz abgeleitetes, gegen den Staat gerichtetes Recht auf Unterstützung und Förderung bei ihrer Entwicklung zu einer eigen
verantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft. ... Eine Diskriminierung behinderter Menschen beim
Zugang zur Schule verbietet Art. 24 des Übereinkommens der Vereinten Nationen
über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, wobei angemessene
Vorkehrungen zu treffen sind, um behinderten Menschen den Zugang zur Schule
zu ermöglichen.“
Wir erinnern die neue Landesregierung daran, dass der UN-Fachausschusses im September 2023 folgende Empfehlungen abgegeben hat:
a) einen umfassenden Plan zur Beschleunigung des Übergangs von Sonderschulung zu inklusiver Bildung auf Landes- und kommunaler Ebene mit konkreten Zeit plänen, menschlichen, technischen und finanziellen Ressourcenzuweisungen und klaren Verantwortlichkeiten für Umsetzung und Überwachung zu entwickeln;
b) Sensibilisierungs- und Bildungskampagnen zur Förderung inklusiver Bildung auf Gemeindeebene und bei den zuständigen Behörden umzusetzen;
c) sicherzustellen, dass Kinder mit Behinderungen Regelschulen besuchen können, einschließlich der Verbesserung der Zugänglichkeit und Anpassung an alle Arten von Behinderungen.
Mit freundlichen Grüßen Dr. Dorothea Terpitz